Tschechische und polnische Suche nach Identität. Tomáš Garrigue Masaryk, Roman Dmowski und ihre Gedankenwelt in vergleichender Perspektive

Zusammenfassung des Buches

MILAN SCHOLZ: České a polské hledání identity. Myšlení Tomáše Garrigua Masaryka a Romana Dmowského v komparativní perspektivě. Praha: Ústav T. G. Masaryka 2020, 653 Seiten.

ISBN 978-80-86142-61-6

Zusammenfassung CZ  PL  GB 

Verwandt: Milan Scholz’s Book on Masaryk and Dmowski Reviewed in Colloquia Humanistica (en)Recenze knihy Milana Scholze o Masarykovi a Dmowském v periodiku Colloquia Humanistica (cz)

Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937) und Roman Dmowski (1864-1939) gehörten zu den bedeutsamsten Vertretern des öffentlichen und politischen Lebens ihrer Länder vor dem Ersten Weltkrieg, in seinem Verlauf und in der Nachkriegsära. Vor dem Jahre 1914 beeinflussten sie das politische und intellektuelle Leben Tschechiens und Polens. Während des Ersten Weltkriegs waren sie die Leitfiguren der tschechoslowakischen und der polnischen Exilpolitik in Westeuropa (Masaryk als Vorsitzende des Tschechoslowakischen Nationalrats, Dmowski als Vorsitzende des Polnischen Nationalkomitees). Nach dem Kriegsende waren aber ihre Lebensschicksale ziemlich unterschiedlich. Masaryk wurde zum Präsidenten der Tschechoslowakei und zum Symbol der tschechoslowakischen Identität, Dmowski vertrat eher die Opposition gegen die Hauptströmung in der polnischen Nachkriegspolitik.

Das Buch befasst sich mit dem Vergleich der Suche nach Identität bei Masaryk und Dmowski sowie mit ihrer Gedankenwelt. Die Hauptquelle der vergleichenden Analyse liegt in den von Masaryk und Dmowski publizierten Büchern, Artikeln und anderen Texten. Die ersten zwei Teile des Buchs sind chronologisch geordnet. Im Rahmen der Lebensläufe Masaryks und Dmowskis behandeln sie die Umwandlungen der Ideenwelt beider Persönlichkeiten und die allmählich umgestaltenden Weisen ihrer Identitätssuche. Der dritte Teil ist vergleichend und analysiert (1) die in den von Masaryk und Dmowski geschriebenen Texten beinhaltete Schilderung der Nationalgeschichte, (2) die Mentalgeographie, (3) die Beziehung zwischen der nationalen und übernationalen Identität, (4) die Rolle der Religion in der Suche nach nationale Identität und (5) die Konzepte der historischen Umgestaltungen (Revolution, Reform, Evolution).

Masaryk betrat die öffentliche Bühne nach dem Jahr 1882, als er Professor der Philosophie an der Prager Universität wurde. Vom Anfang an war sein Interessenfeld breiter als das von der akademischen Sphäre angebotene Umfeld darstellte. Er beabsichtigte, der Ideenführer der sich modernisierenden tschechischen Gesellschaft zu werden. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war er in der Politik engagiert. In den Jahren 1891-1893 war er Abgeordnete des Reichsrats und des tschechischen Landtags, wo er die Jungtschechische Partei repräsentierte. Im Jahr 1890 wurde er Gründer und Führer der neuen politischen Partei (sogenannte Realistische Partei), die er später zwischen den Jahren 1907-1914 im Parlament vertrat. Die Realistische Partei inspirierte sich am Masarykschen Denken und sie war eher eine Art Masarykscher Denkfabrik als ein klassischer Spieler auf der parlamentarischen Bühne. In der tschechischen Gesellschaft der Vorkriegszeit stellte Masaryk trotz des breiten intellektuellen Überblicks und tiefen interdisziplinären Ausbildung eher eine marginale Figur dar. Seine Partei spielte dabei eine Nebenrolle in der tschechischen Politik.  

Dmowski (im Unterschied zum Philosophen Masaryk) studierte Naturwissenschaften (Fachrichtung Biologie) an der Warschauer Universität. In seiner Weltanschauung prägte sich die biologische Interpretation der Geschichtsphilosophie aus. Als Dmowski nach dem Jahr 1890 zwischen der akademischen Karriere und der politischen (öffentlichen) Tätigkeit wählen musste, war seine Entscheidung durch die persönliche Finanzlage erleichtert. Dmowski erbte ein Grundstück in der Warschauer Vorstadt, das mit dem Wachstum der Stadt lukrativ wurde. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gehörte Dmowski zu Mitbegründer der Nationaldemokratischen Partei, die die politische Rechte der polnischen Politik repräsentierte. In den folgenden Jahren wurde er ihr Ideenleiter und bedeutsamer politischer Vertreter. Nach der Russischen Revolution von 1905, als die Grundlagen des modernen Parlamentarismus gelegt worden waren, wurde Dmowski Abgeordnete im Parlament (Duma). Im Unterschied zu den tschechischen Realisten war die polnische Nationaldemokratische Partei eine bedeutsame Kraft im polnischen politischen Leben. Die Position Dmowskis in seiner Partei war aber bei weitem nicht so unumstritten, wie die Stellung Masaryks innerhalb der Realistischen Partei war.  

In der Vorkriegsperiode hielten Masaryk und Dmowski das politische Denken und die Suche nach Identität für den Kern ihrer Aktivitäten. Die parlamentarische Politik war für sie eher ein Nebenfeld. Sie versuchten, ein lebensfähiges Konzept der nationalen Identität und des nationalen Programms zu formulieren, das aufgrund der kritischen Analyse der Nationalgeschichte ein Wegweiser auf dem Weg zur modernen Gesellschaft geworden wäre. Ihre Ideen und Vorstellungen befassten sie damals in einer langen Reihe von Büchern und Artikeln, die die Frage der nationalen Identität behandeln. Dennoch repräsentierten Masaryk und Dmowski zwei unterschiedliche Ideenwelten. Dmowskis Denken war deutlicher vom Nationalismus geprägt und beinhaltete dabei wesentliche Züge des Antisemitismus, was im Masarykschen Denken keine Parallele hatte. Masaryk unterstrich dagegen die Kompatibilität zwischen der Nationalidee und der Humanität. 

Sowohl Masaryk als auch Dmowski arbeiteten im Laufe des Ersten Weltkriegs die Projekte des ‚Neuen Europas‘ aus. Ihr Ziel lag in der Entstehung der Tschechoslowakei und Polens in der Rolle unabhängiger Staaten. Aufgrund der historischen Beispiele und der geographischen (geopolitischen) Argumente versuchten ihre Projekte, die Notwendigkeit der neuen europäischen Raumordnung zu begründen. In der politischen Hinsicht waren aber die Positionen der tschechoslowakischen Exilpolitik auf der einen und der polnischen Exilpolitik auf der anderen Seite beträchtlich verschieden. Im Unterschied zur einheitlichen tschechoslowakischen Repräsentation war die polnische Politik sehr verzweigt. Die Position der Tschechoslowakischen Nationalrats unter Masaryks Leitung war unumstritten. Das Polnische Nationalkomitee war von den Großmächten als Vertreter der polnischen Politik anerkannt, trotzdem war es aber nur eine von gegenseitig wetteifernden polnischen politischen Gruppen. Am Ende des Kriegs aktivierte sich der Widerstand in Polen und der charismatische General Józef Piłsudski übernahm die Macht. Die Exilpolitik und Dmowski waren eher marginalisiert.

In der Nachkriegszeit entwickelten sich die Lebensläufe Masaryks und Dmowskis unterschiedlich. Masaryk, der Präsident der Tschechoslowakei, war als eine Garantie der Stabilität und Demokratie in der unsicheren Welt wahrgenommen. Dmowski wurde an der Pariser Friedenskonferenz nur der zweite Delegierte Polens. Im Herbst 1919 erkrankte er und sein Leben war bedroht. Er kam nach Polen erst im Mai 1920 zurück. Damals formte sich schon die neue politische Elite (sogar innerhalb der Nationaldemokratischen Partei). In dieser Periode entstand und wuchs Dmowskis Kritik des Liberalismus und der Demokratie. Dmowskis Antisemitismus, der in seinem Denken schon früher anwesend war, verstärkte sich wesentlich. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurde Dmowski zum Ideenführer der nationalistischen Opposition gegen das herrschende autoritäre Regime (sogenannte Sanation, nach 1926). Obwohl die polnischen Nationalisten vom italienischen Faschismus wesentlich beeinflusst waren, war die Rolle der faschistischen Inspiration in Dmowskis Denken eher ambivalent. Die Nationalisten wollten Dmowski als Führer wahrnehmen, Dmowski lehnte aber solche Rolle ab. Im Vergleich zur jüngeren Generation vertrat Dmowski den Nationalismus der alten Schule, der von der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts geprägt war. In diesem Kontext betonte er eher die langfristige Politik gegen Ansprüche auf schnelle Lösungen, heftige Aufschreie und inhaltslose Slogans.   

Die Masaryksche Verteidigung der Demokratie kontrastierte mit Dmowskis Kritik der verfallenden europäischen Zivilisation. Masaryk gehörte zu den Verteidigern der Demokratie und des Parlamentarismus und er glaubte an die Zukunft der europäischen Kultur. Dennoch war auch Masaryk skeptisch gegenüber der Vorbereitung des Volkes für das demokratische Leben. Nach Masaryk war die entstehende Massengesellschaft nicht imstande, die Gegenwart als ein Ergebnis der historischen Entwicklung zu verstehen. Deswegen zog sie eher die kurzsichtigen Politiker vor, die nur ein kurzfristiges Programm anboten. Die Demokratie war aber noch jung und infolgedessen war sie bereit, sich zu verbessern. Die von den Kritikern der Demokratie vorgelegenen und angebotenen Projekte waren nach Masaryk nicht lebensfähig. Er behauptete dabei, dass die positiven Umgestaltungen und Umwandlungen der Gesellschaft manchmal (obwohl überhaupt nicht immer) im demokratischen Regime durchgeführt werden können, in der Diktatur seien sie aber nicht zu verwirklichen.  

Trotz der verschiedenartigen Weltanschauungen Masaryks und Dmowskis sind ihre Texte aus der Zwischenkriegszeit ein interessantes Objekt für die vergleichende Analyse. Sie schildern die Erinnerungen aus der Kriegszeit und bringen ergiebige Überlegungen über die Geschichtsphilosophie und Nationalgeschichte als auch die Reflexionen der Gegenwart aus der historischen Perspektive. Sowohl Masaryk als auch Dmowski (ähnlich wie in der Vorkriegszeit) betonten in ihren Texten die Rolle des langfristigen politischen Programms und der allmählichen ruhigen Entwicklung, die auf der Ausbildung beruhen.